Verantwortung für den Staat Israel und die Folgen seiner Gründung

Logo der Gedenkstätte Yad Vashem (wikimedia commons)

„Sie sind Präsident, kein Politiker. Davon verstehen Sie nichts. Halten Sie sich da raus!“ Barsch herrschte Benjamin Netanjahu, Israels Regierungschef, Roman Herzog, den deutschen Bundespräsidenten, an. Herzog blieb gleichmütig, ließ die Tirade scheinbar ungerührt an sich abprallen. Als verstünde er kein Englisch. Der Dolmetscher übersetzte etwas weichgezeichnet. Was hatte Herzog verbrochen, dass er sich eine solche Suada einhandelte? Das Existenzrecht Israels in Frage gestellt? Die besondere deutsche Verantwortung für diesen Staat? Die Hauptstadt Jerusalem? Nichts von alledem. Er hatte schlicht gefragt, wie der Israeli die Lebenssituation der Palästinenser im Westjordanland einschätze. Das reichte, um sein Gegenüber explodieren zu lassen. Was dort drüben geschah, war nicht für die Augen der Weltöffentlichkeit geeignet, nicht für prominente Beobachter, erst recht nicht für deutsche. Kein Thema!

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Amtsrichter Feldmann und das Kreuz mit dem Kreuz

Bild: GDJ auf Pixabay

Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem »Kruzifix-Beschluss«. die Verfassungswidrigkeit von Kreuzen in öffentlichen Räumen des Staates festgestellt hat, gehören sie weiterhin vielerorts zum Inventar. Eine andauernde Missachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung, die bislang ohne Konsequenzen blieb. Ralf Feldmann, streitbarer Richter im Ruhestand, fragt, „wie kommt es eigentlich, dass Teile der Politik über Parteigrenzen hinweg – aber auch Akteure der Justiz – die Letztentscheidungs-Kompetenz des Verfassungsgerichts nicht anerkennen und sich damit über das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung hinwegsetzen?” Ralf Feldmann ist das, was man einen umtriebigen Menschen nennt. Er hat Jura, Geschichte und Politik studiert, danach promoviert. Ab 1976 arbeitete er als Richter in Bochum, zunächst am Land-, später am Amtsgericht. Ein engagierter Jurist, der nicht nur Urteile sprach, sondern sich auch um den Zustand der Justiz sorgt, beispielsweise um die Frage, welchen Wert haben Verfassungsgerichtsurteile, wenn sie selbst von der Justiz ignoriert werden?

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Bildungsort Kita – sozial Schwache bleiben draußen

Bild: viarami auf Pixabay

Chancengleichheit und gleichwertige Lebensverhältnisse: Das sind große Versprechen im deutschen Grundgesetz. Für die Kinder zwischen zwei und sechs Jahren bleiben sie uneingelöst, obwohl die Drei-bis Sechsjährigen seit 1996 und die unter Dreijährigen seit zehn Jahren einen Rechtsanspruch auf Bildung, Betreuung und Erziehung in einer Kindertagesstätte haben. Hunderttausenden von berufstätigen Eltern, insbesondere aber alleinerziehenden Müttern fehlt diese Unterstützung, so dass sie gegen ihre eigenen Wünsche nur eingeschränkt erwerbstätig sein können. Mehrere aktuelle wissenschaftliche Studien liegen dazu jetzt vor. Sie sollten die Gesellschaft aufrütteln, gerade auch vor dem Hintergrund der diesjährigen Ergebnisse der PISA-Studie (“Deutsche Schüler schlecht wie nie“).

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Dr. Carsten Linnemanns Sozial-Comic in Sachen Bürgergeld für junge Leute

Carsten Linnemann (Foto: Olaf Kosinsky auf wikimedia commons)

Die nun ausgeschiedene Moderatorin Anne Will war „erschüttert“, weil Vizekanzler Robert Habeck ein Scheitern der Ampel wegen offener Haushaltsfragen nicht ausschließen wollte. (Ausschnitt aus der Sendung am 3. 12.2023: Habeck: “Ich bin ganz optimistisch, dass wir auf gutem Weg sind, uns zu einigen.” Will hakte nach: “Heißt aber nicht, dass Sie sicher sind, dass Sie sich einigen?”. Habeck: “Ich kann nicht für alle sprechen, aber ich wiederhole, dass ich glaube, dass wir gut vorankommen.” Will: “Ich bin erschüttert Herr Habeck, Sie sagen uns damit, dass es sein kann, dass es nicht klappt.”) Gegenfrage: Aus welchen anderen Gründen als wegen offener Haushaltsfragen sollte ein Koalition ihre Fahnen einrollen?

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Verordneter Philosemitismus: Die deutsche Nahostpolitik sieht nur die Vergangenheit

Bild: dimitrisvetsikas1969 auf Pixabay

Als ich früher bei der SPD über die Notwendigkeit einer wertegeleiteten Politik sprach, erwiderte eine junge Genossin: „Wir können Wahlen nur mit der Kernbotschaft gewinnen: mehr netto vom brutto.“ Damit werden die Triumphe Margaret Thatchers komplett. 1981 sagte sie: „Economics are the means; the object is to change the soul.“ Wenn wir voraussetzen, dass Menschen nur von materiellen Eigeninteressen getrieben werden, hat der Neoliberalismus unsere Seelen verändert. Denn Menschen werden nicht nur vom Fressen angetrieben, sondern ebenso von Moral – auch wenn das Fressen zuerst kommt. Damit die Menschen aber von Werten überzeugt werden, müssen diese Werte klar artikuliert und glaubwürdig vertreten werden.
Die Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, auf denen auch die Grundwerte der SPD beruhen, sind in verschiedenen religiösen Traditionen zu finden, doch erst die Aufklärer haben sie klar und übergreifend formuliert. Inzwischen ist die Aufklärung aber zum Objekt der Verachtung geworden. War sie nicht das Zeitalter der Menschenrechte, gleichzeitig auch der Sklaverei und des Kolonialismus?

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Übernimmt der Balken im Auge die Sehfunktion, wird der Gegenstand unkenntlich

Bild: vanessazoyd auf Pixabay

Mit Verzögerung schafft sich die Einsicht Raum, dass das vermehrte Votum für die AFD nicht einem Protest gegen die herrschende Politik, sondern einem Votum für die AFD entspringt. Als Einsicht darf sie bezeichnet werden, weil sie die Tatsache des Votums nicht länger kraft einer vermeintlich besseren Kenntnis, eines Verständnisses der Hintergründe dessen bestreitet, was es vordergründig bedeutet. Im Gegenteil. Hätte man schon früher darauf verzichtet, das Votum zu interpretieren, dann hätte man es beizeiten verstanden, sich aber dem Verdacht ausgesetzt, das jetzt unbestreitbar Eingetretene aus der bloßen Vorstellung in die Wirklichkeit zu befördern. Verzichtet man heute darauf, hinkt man dagegen in fataler Weise hinterher. Die Einsicht wäre also nie zeitgleich. Das Votum für eine Partei, die sich offen über die politische Moral stellt, kann nicht in der gewohnten Weise des Umgangs mit Politik abgetan werden, ist es doch eine „krasse Sache“, die eigene Maßstäbe setzt und in ihrer substantiellen Aussage verstanden werden muss, zumal den Verhältnissen im politisch abgehängten Osten Deutschlands ein globales Phänomen entspricht: die Ablehnung der Demokratie nicht wegen mangelnder, sondern aufgrund der Bekanntschaft mit ihr.

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Den Nachhaltigkeits-Notstand ausrufen

Die 28. Weltklimakonferenz (COP 28) findet vom 30.11. bis 12.12. 2023 in Dubai statt.

In der momentan turbulenten Debatte über die Folgen des Verfassungsgericht-Urteils werden die folgenden beiden unbestreitbaren Grund-Annahmen zu selten beachtet: Die Schulden einer Privatperson oder eines Staates entsprechen immer einem Guthaben oder Vermögen bei einer anderen Person oder einem anderen Staat. Das ist ein systemischer Zusammenhang.
Die zweite Grund-Annahme: Die meisten Schulden und Vermögen, die es auf diesem Planeten gibt, sind aufgrund eines nicht-nachhaltigen Wirtschaftens entstanden. Sie beruhen ebenfalls systemisch auf der Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen und auf der Ausbeutung der Öko-Sphäre durch Menschen; dies gilt vor allem für Schulden und Vermögen in den sogenannten entwickelten Industrieländern. Und es gilt zudem: Je größer die Vermögen sind, desto stärker ist ihr Anteil (ihre Mit-Schuld) an dem Funktionieren von nicht-nachhaltigem Leben und Wirtschaften; und je kleiner diese Vermögen, desto kleiner ist auch ihr Anteil, ihre Mit-Schuld und Mit-Verantwortung. So weit das systemische Fundament der aktuellen Debatte.

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Privater Rückzug, mediale Fluchten, vage Hoffnung

Bild: Tumisu auf Pixabay

Von der Stapelkrise zum Krisenstrudel – Wie Terror und Kriege in Israel und der Ukraine die deutsche Bevölkerung psychologisch überfordern: Mit dem „Deutschland-Psychogramm“ fühlt der Gesellschaftsforscher Dirk Ziems vom Institut concept m den Bürgern in Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen den psychologischen Puls. In einer aktuellen tiefenpsychologischen Studie mit 30 Teilnehmern hat er sich mit den Reaktionen auf die Kriege in Israel und der Ukraine auseinandergesetzt. Der zentrale Befund, den er im folgenden Beitrag erläutert: Die Überforderung der Bevölkerung geht in eine neue Belastungsstufe über.

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Die Weitsicht, die das Bundesverfassungsgericht nicht hatte

Stellen Sie sich bitte vor, der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hätte mit Blick auf die Merz&Co-Klage zur Verfassungskonformität der Verschuldenspolitik von Legislative und Exekutive erklärt:
Wir haben haben grundlegende Bedenken, die wir zunächst zurückstellen. Bundestag und Bundesregierung müssen aber innerhalb der laufenden Legislaturperiode eine vom Grundgesetz vollständig getragene sowie in der Zukunft für übergreifende Probleme taugliche Lösung finden. Wir stellen unsere gravierenden Bedenken vorübergehend zurück, weil wir nicht ausschließen können, dass die Folgen eines Finanzierungsverbots nicht kalkulierbare soziale, wirtschaftliche und die Klimaverbesserung schwächende Konsequenzen haben könnten. Charakteristikum der gegenwärtigen Situation ist für uns, dass uns eine überzeugende Folgenschätzung fehlt und wir uns daher jetzt einer Entscheidung verschließen müssen, wie sie vom Antragsteller gefordert wird…

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Linke Politik wäre als Weltinnenpolitik zu denken und zu praktizieren

Viel ist von der Krise der Linken die Rede. Diese zu überwinden erfordert, sich von einem beschränkten, durch spezifische Parteiprobleme verzerrten Rahmen zu lösen. Es geht also um linke Politik insgesamt, dazu hier einige vorläufige, skizzenhafte Überlegungen (Teil 2).
»Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat.« (Volker Braun)
Die Umsetzungsfrage zu betonen, soll weder zu einem ausschließlichen Plädoyer der »kleinen, aber möglichen Schritte« verleiten, weil diese nicht ausreichen. Aber ebenso wenig reicht die Hoffnung auf einen »großen Sprung« heraus aus den kritisierten Verhältnissen. Die Antworten liegen dazwischen. Das ist kein »Dritter Weg«, sondern der nötige Schritt heraus aus einem falschen Dualismus, der im veränderten Rahmen noch weniger Berechtigung hat. Umsetzungsfragen betreffen alle Varianten linker Politik, der Zeitfaktor der biophysikalischen Existenzkrise lässt sie nun ins Zentrum treten. 

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Umweltfragen sind zu Umsetzungsfragen geworden

Viel ist von der Krise der Linken die Rede. Diese zu überwinden erfordert, sich von einem beschränkten, durch spezifische Parteiprobleme verzerrten Rahmen zu lösen. Es geht also um linke Politik insgesamt, dazu hier – in zwei Teilen – einige vorläufige, skizzenhafte Überlegungen.
»Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat.« (Volker Braun)
Linke Politik ist den Ideen der Aufklärung, wissenschaftlicher Erkenntnis, einem Vernunft-Begriff, der nicht populistische Parole ist, sowie gleichen Rechten des Individuums verpflichtet. Ihre Kritik zielt auf Verhältnisse, in denen Menschen über Menschen herrschen. Noch älter ist ihre Maxime, so zu handeln, »dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Immanuel Kant). Im Unterschied zu rechter Politik macht linke Politik Gleichheit zum normativen Fluchtpunkt ihrer Ideale einer guten gesellschaftlichen Ordnung. Sie bekämpft daher alle strukturellen, gesellschaftlichen Verhältnisse, die illegitime Ungleichheit der Individuen reproduzieren. Vision ist eine Assoziation, in der die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. So weit, so gut.

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Linker Politik fehlen große Erzählungen

Der Titel klingt paradox. „Mehr Zuversicht wagen“. Zuversicht hat man. In Zuversicht ruht man. Wie kann sie ein Wagnis sein? Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien in Hamburg, löst dieses Paradoxon in einer Zeitreise durch die eigene Biographie, durch literarische Notizen, durch Verweis auf kraftvolle Songtexte, durch Erinnerungen an große politische Redner auf. Dass Zuversicht ein Wagnis sein kann, das spürt der in Gelsenkirchen geborene Brosda als Schalke-Fan ein Leben lang. Doch im Auf und Ab seines Lieblingsvereins hat er auch gelernt: „You`ll never walk alone“.

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Hessische Rolle rückwärts mit willfähriger SPD?

Der bisher jovial-bedeutungsarm erscheinende Boris Rhein, CDU, wirft ohne Federlesen den zehnjährigen grünen Regierungspartner über Bord, um ab jetzt sein geliebtes Hessen — zusammen mit einer ramponierten SPD — mit „Stil, Stabilität, Renaissance der Realpolitik“ und „sanfter Erneuerung“ durch diese turbulente Welt zu wiegen. Gar so als wäre es in den letzten zehn Jahren wegen der Grünen um turbulent-revolutionäre Veränderungen gegangen. Was sprachlich so esoterisch-sanft daher kommt, könnte den Anspruch in sich bergen, von Hessen aus die Statik dieser Republik zu verschieben. Rhein könnte aus dem politischen Moment eines überraschend und unverdient guten Wahlsieges heraus versuchen, eine Politik der Blockade aufzubauen: Status quo statt Veränderung. Eine Blockade-Koalition, die am 8. Oktober an der Wahlurne überzeugend legitimiert worden wäre. Denn der Aufstieg von CDU und AfD deckt sich mit dem Niedergang der Parteien links der Mitte. So verloren am 8. Oktober SPD, Grüne und Die Linke jeweils beträchtlich und kamen zusammen auf weniger Stimmen (33 Prozent) als die CDU alleine (34,6 Prozent); Hessen galt einst als rotes Bundesland. Und CDU und AfD (18,4 Prozent) gewannen jeweils überzeugend hinzu und erreichten zusammen 53 Prozent.

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Was fehlt, ist eine Perspektive, die Lust und Hoffnung macht

Die Klimakrise ist am Durchdrehen. Ohne Unterlass prasseln die Nachrichten auf uns ein, die eines klar machen: Ohne, dass sich schnell alles ändert, ist die Erderwärmung nicht auf 1,5° zu begrenzen. Ein Kipppunkt nach dem anderen wird in den nächsten Jahren überschritten, teils geschieht es schon. Alles geht schneller als gedacht, inzwischen ist nicht mehr die Frage, ob sich die Klimakrise noch verhindern lässt, sondern wie schlimm sie – für wen und wo– wird und ob eine Eindämmung gelingt. Während Regierungen und Unternehmen damit beschäftigt sind, ihre Klimaziele zu verschieben oder ihre Bilanzen grün zu färben, weil sie sogar ihre selbst gesetzten Ziele Jahr für Jahr reißen, bemühen sich andere angesichts der dramatischen Situation um echte Veränderung, ambitionierte Ziele und fordern die Maßnahmen, die notwendig sind, um diese zu erreichen.

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It`s culture, not nature

Im Angesicht des multiplen Krisengeschehens auf dieser Welt erfasst uns häufig ein tiefes Unbehagen, ja schiere Verzweiflung. Das wird sich nie ändern, ist oft zu hören, denn der Mensch sei eben von Natur aus böse, gierig, machtbesessen und stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Nein, erwidern Carel van Schaik und Kai Michel, die Autoren von „Mensch sein – Von der Evolution für die Zukunft lernen“ (Rowohlt Verlag 2023). Das sei grundfalsch und im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Geschichtsschreibung lediglich die letzten 5.000 Jahre mit ihren männlichen Unterdrückungsstrukturen und fatalen Dominanzkulturen thematisiert hat und diese als gott- oder naturgegeben begründet.

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