Ich lese und erschrecke

Seit wenigen Tagen halte ich die Textsammlung zum „Berliner Historikerstreit“ aus dem Jahr1879 in den Händen, die Nicolas Berg kommentiert und mit ergänzenden Beiträgen neu herausgegeben hat. Und ich bin erschüttert. Ich habe diese Texte bisher nahezu alle nicht gekannt. Wie konnte das passieren, wo mich doch keine politische Frage mehr umgetrieben hat als die: Wieso haben im deutschen Bürgertum Wissenschaftler, Politiker und Journalisten in den letzten hundert Jahren demokratisch, national und sozial so versagt, sich völkischem Gedankengut so bereitwillig geöffnet? Warum nahm im Deutschen Reich unter den bürgerlichen Eliten das antidemokratische und antijüdische Denken einen solchen Platz ein? Wer waren die treibenden Kräfte bei den Angriffen gegen die angeblich nationalunwürdigen jüdischen Deutschen? Wer war es, der ihnen absprach, Patrioten zu sein? Wie stark waren Gegenkräfte und wer stand für sie?

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Arbeit, Konsum, Privatvergnügen, alles andere is’ mir egal

Chilenisches Putsch-Fresko, Uni Bielefeld (wikimedia commons)

Würde Augusto Pinochet noch leben, er hätte wahrscheinlich rund um den 50. Jahrestag des Putsches in Chile seine helle Freude am Zustand der Welt, insbesondere an dem der Massen. Musste er seinerzeit noch mit Hilfe des Militärs und der CIA gegen eine sozialistische Regierung und eine selbstbewusste Gesellschaft putschen, können sich autoritäre Führer heute in weiten Teilen der Welt auf politische Mehrheiten verlassen oder wissen diese zumindest in greifbarer Nähe. Nicht nur in Chile. Die autoritäre Gefahr, sie kommt heute längst nicht nur von oben.

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Rechtsextreme im Kampf um Köpfe, Straße und Parlamente

Bild: johnhain auf Pixabay

Eine Polarisierung, die nur noch zwischen Freund und Feind unterscheidet, nimmt nach Auffassung des Sozial- und Bewegungsforschers Dieter Rucht auch in Deutschland zu. Aber unser Land sei nach wie vor auch geprägt von den „Konfliktlinien zwischen Arm und Reich, Staatsgläubigkeit und Marktliberalität, auch zwischen Links und Rechts, zwischen kultureller Offenheit und Geschlossenheit“. „Noch haben wir in Deutschland, anders als etwa in den USA, eine relativ starke politische Mitte, die einer Polarisierung entgegensteht“, betont Rucht im Interview mit Wolfgang Storz.

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Politische Machtfrage: Was müssen wir tun, um das Notwendige unterlassen zu können

Bild: geralt auf Pixabay

An der Frage, ob Parteien überhaupt noch adressiert werden sollten, wenn sie doch einem offensichtlich geradezu natürlichen Prozess der Kartellisierung unterliegen, kann man sich schon mal die Zähne ausbeißen. Denn noch jede Partei – egal, wie ihr Gründungsaufruf einst lautete – sieht ab einem bestimmten Punkt ihre Aufgabe nicht mehr darin, eine eigene politische Agenda durchzusetzen, die im allerbesten Fall einen der Fülle der Gegenwart und ihrer Probleme angemessenen Entwurf für gesellschaftliche Transformation enthält. Wobei schon das Wort Transformation inzwischen einen abgestandenen, schalen Geschmack hat, führen es doch alle im Munde und viele meinen damit: Was müssen wir tun, um das eigentlich Notwendige unterlassen zu können?

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Eis, Strandkorb und Barbie-Museum

Foto: analogicus auf Pixabay

Mit einem Strandkorb wäre es Urlaub gewesen. Doch die Eltern bezeichneten die fünf Mark Mietgebühren, die der schon damals pro Tag kostete, als Geldverschwendung. Vor Wind schützten auch die Dünen, selten genug sei Strandwetter, und das Haus der Großeltern liege keine Viertelstunde Fußweg entfernt, nah genug, um dort Ruhe zu finden, wenn der Ostseestrand überfüllt sei. Argumente, die eine 12-Jährige schon 1978 nicht überzeugten. »Zu den Großeltern fahren« war eben nicht das Gleiche wie »verreisen«, auch wenn ihre da wohnten, wo andere Urlaub machten. Aber diese anderen logierten in Hotels, Pensionen oder wenigstens Ferienwohnungen, saßen ständig in Restaurants und mieteten eben auch Strandkörbe. Für die gesamten 14 Tage, weil es billiger war. Damit der Mensch nicht aus der Touristenrolle fällt, muss ihm alles zur Ware gemacht werden – und umgekehrt.

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“Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren”

Antonio Guterres, seit 2017 UN- Generalsekretär, bei der Verleihung des Aachener Karlspreises 2019. (Foto: Olaf Kosinsky auf wikimedia commons)

„Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, erklärte UN-Generalsekretär Guterres anlässlich der Weltklimakonferenz Cop-27. Er hat allen Grund zur Sorge, denn wenn sich der Gegenwartstrend beim Ausstoß klimaschädlicher Emissionen in Zukunft fortsetzt, werden die CO2 -Budgets, die der Welt zur Verfügung stehen, um das 1,5-Grad-Erderhitzungsszenario noch zu erreichen, bereits in wenigen Jahren aufgebraucht sein. Ein Bericht von Oxfam deutet an, woran gutgemeinte Klimapolitik immer wieder scheitert: Zwanzig der reichsten Milliardäre emittieren bis zu achttausend Mal mehr Kohlenstoff als die Milliarde der ärmsten Menschen. Wie das Problem der Klimagerechtigkeit politisch bearbeitet werden kann, wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert. Markt- und technikzentrierte Lösungen konkurrieren mit einem neuen Staatsinterventionismus, der sich wiederum durch Forderungen nach einem radikalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft herausgefordert sieht.

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Moralisch aufgeblasen, sozial schlaff

Catherine Liu, Professorin an der University of California in Irvine und einst Unterstützerin der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders, hat ihr Buch über linksliberale “Tugendpächter” noch während der Amtszeit von Donald Trump geschrieben. Die erst jetzt erschienene deutsche Übersetzung ist deshalb aber keineswegs uninteressant. Lius vorwiegend auf die Vereinigten Staaten bezogene Darstellung einer “neuen Klasse”, die sich “mit Moral tarnt und Solidarität verrät”, weist in vielen Punkten Ähnlichkeiten zur Situation in Deutschland auf. Lius scharfe (Selbst)Kritik der Linken und Linksliberalen kann man, wenn auch nicht eins zu eins, durchaus auf die urban-grün geprägte Klasse der “oberen zehn Prozent” in Deutschland übertragen.

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Martialische Rhetorik rechter Polizeigewerkschaften

Bild: Conmongt auf Pixabay

Bei einer Fahrzeugkontrolle erschoss ein französischer Polizist am 27. Juni im Pariser Stadtteil Nanterre aus nächster Nähe den 17jährigen Nahel M., einen Franzosen mit algerischen Wurzeln. Nach dem ersten entsetzten Schock über die „unentschuldbare“ Tat des Polizisten (Präsident Emmanuel Macron) verbreitet sich in der französischen Gesellschaft eine explosiv schwelende Mischung aus tiefer Ratlosigkeit, aus Überdruss an der seit den Protesten der „Gelbwesten“ vor fünf Jahren wachsenden alltäglichen Gewaltbereitschaft auf jedweden Demonstrationen sowie aus Feindseligkeit gegen afrikanisch- und arabisch-stämmige Franzosen, die das nur „auf dem Papier“ seien. So unterstellte der im Senat einflussreiche Republikaner Bruno Retailleau den eingewanderten Franzosen der zweiten und dritten Generation in aller Offenheit eine „ethnische Regression“ (in Franceinfo am 6. Juli).

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Debatte über den Verfassungsschutz: überfällig

Der deutsche Verfassungsschutz ist etwas sehr Besonderes. Einen solchen Geheimdienst haben andere westliche Demokratien nicht. Es ist ein Geheimdienst, der im Inland späht. Er richtet sich nicht gegen Kriminelle, sondern gegen Personen und Gruppen, die als politisch verwerflich erklärt werden. Er spioniert Bürgerinnen und Bürger aus, die keine Gesetze verletzen, sondern ihre demokratischen Rechte wahrnehmen. Dabei hat der Verfassungsschutz enorm große Freiheiten, enorm große Macht.
Das kritisiert Ronen Steinke, in Berlin lebender Journalist und Autor, der vor allem für die Süddeutsche Zeitung recherchiert und schreibt. In seinem neuen Buch geht er der Frage nach, ob dieser Geheimdienst die Demokratie schützt oder eher schadet. Er verhalte sich in seiner Überwachungspraxis auch demokratieschädigend, sagt Ronen Steinke und fordert eine neue über Debatte über die Legitimität des deutschen Verfassungsschutzes.

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Nebel des Krieges, Nebel der Sanktionen

Es gebe zahlreiche internationale Friedensinitiativen und hinter den Kulissen fänden regelmäßig Gesprächskontakte auf höchster politscher Ebene statt – auch zwischen den USA und Russland, sagt Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz. Diese Kontakte “haben das Ziel, im Gespräch zu bleiben, Fehlkalkulationen zu verhindern und auszuloten, ob sich neue Spielräume für den politischen Prozess ergeben”. Aber alle Initiativen und Kontakte seien zum Scheitern verurteilt, solange Russland an seinem Kriegsziel festhalte, den Staat, die Identität und die Kultur der Ukraine zu zerstören.

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Metamorphosen der Kapitalverwertung am Beispiel Deutschland

Das Wort hatte die britische Wirtschaftspresse geprägt und es war keineswegs freundlich gemeint. Die Deutschland AG galt als das Synonym der gegen die ausländische Konkurrenz abgeschotteten Ökonomie, ein Old Boys Club, bestehend aus den drei großen deutschen Universalbanken, den Versicherern und den Industrie- sowie den Handelskonzernen. Diese hießen Preussag, Veba, Horten, Mercedes, Mannesmann und heißen heute TUI, EON, Galeria, Daimler, Vodafone. Hinter der Namensänderung steht ein völlig verändertes Finanzierungsmodell. Die Substanz ist aber ganz unverändert geblieben: Die Verwertung des Kapitals muss dessen Metamorphosen durchlaufen, damit sie gelingt und aus Geld mehr Geld werden kann.

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Klares Übergewicht der Alchemie

Bild: Hendrik Tammen auf wikimedia commons

Die Bundesrepublik hat das Kapitel Stromerzeugung durch Kernspaltung weitgehend abgeschlossen, nun könnte mit der Kernfusion eine andere Form von Atomenergie nutzbar werden. Die Frage liegt auf der Hand, wie sich dabei die Fehler vermeiden ließen, die bei der Kernspaltung gemacht wurden. Diese Reflexion müsste selbstverständlich sein, sie findet aber nicht statt; schon Hinweise auf Fehler gelten als Ausdruck »grüner Ideologie«. Maßgebliche Kräfte in Wirtschaft und Politik können das nächste nukleare Abenteuer kaum erwarten, ohne das vorige verstanden zu haben.

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Herr Erler, was passiert gerade in Russland?

Foto: privat

Sein Leben lang hat der Sozialdemokrat Gernot Erler, 79, für die deutsch-russische Verständigung gearbeitet. Erler, der Slawistik studiert hat, war Bundestagsabgeordneter, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Er erklärt im Interview mit Horand Knaup, warum Putin nicht mehr auf Ratschläge hört, die Russen trotzdem immer noch hinter ihm stehen und warum die alte Dichotomie zwischen pro- und antiwestlich im Globalen Süden nicht mehr funktioniert.

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Der Einsatz von Streubomben missachtet humanitäres Völkerrecht, immer und überall

Denkmal für Kriegsopfer aus dem Dorf Pjesjaniki in der Ukraine, 2008 (Foto: Maxim560 auf wikimedia commons)

Unexplodierte Sprengkörper („Blindgänger“) aus Streubomben, die die USA vor über 50 Jahren in Vietnam, Laos und Kambodscha sowie vor 20 Jahren im Irakkrieg eingesetzt hatten, fordern nach wie vor jährlich Hunderte Todes-und Verstümmelungsopfer unter der Zivilbevölkerung der betroffenen Länder. Humanitäre Hilfsorganisationen wie Handicap International, die sich bei der Räumung dieser Munition engagieren, rechnen mit bis zu weiteren 50 Jahren bis zu ihrer vollständigen Beseitigung. Eine ähnliche, möglicherweise jahrzehntelange Gefährdung droht der ukrainischen Zivilbevölkerung.

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